Die Geschichte von den gefangenen Händlerinnen

Bootleg of a Buddhist short story about captivity and the continent of living freedom

re-writing alexandra reill 2003
following: dilgo khyentsedas herzjuwel der erleuchteten, theseus verlag, 4., verbesserte auflage 2002, ursprgl. 1992, p. 163-165
publisher kanonmedia | vienna 2003

Please note: The text is available in German only:

Die Geschichte von den gefangenen Händlerinnen

Einst stach eine Gruppe von Kauffrauen in See, um die beruehmte Juweleninsel zu finden. Doch ein Sturm machte sie schiffbruechig, und sie mussten auf einer Insel Zuflucht suchen, die von menschenfressenden Ungeheuern bewohnt war.
 
Um die Haendlerinnen unter ihre Kontrolle zu bringen, verwandelten sich die Ungeheuer auf magische Weise in anmutige Prinzen. Derartig wohlgestaltet war es ihnen ein Leichtes, die Frauen zu bezaubern, ihr Vertrauen zu gewinnen, und im Handumdrehen waren die menschenfressenden Prinzen mit allen Haendlerinnen vermaehlt. Von da an standen diese unter strenger Beobachtung und durften sich nur wenige Schritte von ihrem Zuhause entfernen.
 
Eines Tages jedoch gelang es der Kapitaenin, sich unbemerkt etwas weiter zu entfernen als ueblich. Sie kam zu einem riesigen Haus aus Eisen, aus dessen Inneren eine Stimme rief: ‚Hoert, ihr dort draussen! Auch wir sind Haendlerinnen, die auf dieser Insel gestrandet sind und hier gefangengehalten werden. Seid vorsichtig! Ihr werdet betrogen. Die Prinzen, mit denen ihr euch vermaehlt habt, sind in Wirklichkeit Menschenfresser und haben vor, euch alle zu toeten und zu verschlingen.‘ Da erkannte die Kapitaenin endlich, dass man sie und ihre Frauen ueberlistet hatte und sie Gefangene der menschenfressenden Prinzen waren. ‚Wir sitzen in einer furchtbaren Falle,‘ sagte sie, ‚gibt es denn keinen Ausweg?‘
 
Die Stimme erwiderte: ‚Fuer uns gibt es keinen mehr, aber ihr habt noch eine Chance. Oestlich dieser Stadt liegt ein See, an dessen Ufern sich ein Waeldchen befindet, Hain des Goldenen Grases genannt. In jeder Vollmond- und Neumondnacht kommt ein Hoechster Geist aus dem Himmlischen Bereich der Dreiunddreissig in der Gestalt des koeniglichen Pferdes Valaha, Maechtige Wolke, dorthin, um zu grasen, zu trinken und sich im goldenen Sand zu waelzen. Jeden, der die Insel der Menschenfresser verlassen und zum Kontinent der freien Liebe gelangen will, ruft es herbei, um ihn auf seinem Ruecken dorthin zu tragen. Ich habe die menschenfressenden Prinzen sagen hoeren, dass jeder, der sich an Valahas Maehne festhaelt und sich ihrem truegerischen Flehen taub stellt, nicht daran gehindert werden kann, sicher auf den Kontinent der lebendigen Freiheit zu entkommen.‘
 
Die Kapitaenin eilte zurueck, um ihren Gefaehrtinnen zu berichten, was sie erfahren hatte, und entsetzt ueber die Notlage und wissend, dass nur noch eine einzige Moeglichkeit bestand, ihre Freiheit wiederzugewinnen, beteten alle aus ganzem Herzen zu dem Hoechsten Geist.
 
Wie vorhergesagt erschien in der Vollmondnacht das himmlische Pferd und graste friedlich im Hain des Goldenen Grases. Kurz bevor es sich in die Luefte schwang, rief es den Haendlerinnen zu, rasch auf seinen Ruecken zu steigen. Als die menschenfressenden Prinzen sahen, dass ihre Gefanginnen im Begriff waren zu fliehen, begannen sie zu jammern und zu klagen. Sie entrissen den Haendlerinnen die Kinder, die jene den Prinzen geboren hatten, und flehten ihre Gemahlinnen an, dazubleiben, um fuer ihre armen Soehne und Toechter zu sorgen, die sonst mit Sicherheit alle verhungern wuerden. Einige der Haendlerinnen konnten ihr Verhaftetsein nicht loesen, und dem Jammern ihrer menschenfressenden Gatten nicht widerstehend, fielen sie auf die Erde zurueck. Die meisten jedoch, taub gegenueber diesem traenenreichen Flehen, beteten mit tiefem Vertrauen zu dem Hoechsten Geist, und es gelang ihnen, sicher auf den Kontinent der lebendigen Freiheit zu entkommen.

Die Geschichte von den gefangenen Händlerinnen published in

— the muse apprentice guild / nyc / us / 03