never forget how fragile people are

Installation eines calendariums als formales Ergebnis eines Künstlerischen Forschungsprojekts zu Big Data und Etyming

alexandra reill, installation, 2019

installation, consisting of
1 screensaver / video loop [.m4v, Full HD, 02:16:02:00, fullscreen mode] from about 2.450 everyday photos in 4c, doubled in 1c, laid out in magazine style
1 macbook [15″ screen, matt silver case]
1 .xls portfolio [29,50 x 70,20 cm], digital print 1c one-sided on 112 sheets of white copy paper, smooth coated, soft cover, linen effect, matte white, ring binding, transparent
2 photos [15,00 x 10,00 cm], digital print 4c / 1c, matt, on paper, framed in brass-colored sheet, lying
1 work table [approx. 200,00 x 80,00 x 80,00 cm], free standing in room

Im Rahmen des Künstlerischen Forschungsprojekts zum Thema Big Data, in dem das Forschungsziel darin besteht, die Funktionstüchtigkeit von Tagging als wesentliches Tool aus dem Social Profiling in Kombination mit Methoden aus der Persönlichkeitsauswertung (Vgl. Big Five / FFM (1)) zu erproben, erklärt sich Alexandra Reill für einen definierten Zeitraum zum Sample für biografische Entwicklung, die fallgleich genauso von einer anderen Person durchlebt werden könnte, und stellt sich einer versachlichenden Selbstevaluierung unter Betrachtung von Etyma (2) – der „eigentlichen“ Bedeutung von Worten – zur Verfügung. Das Forschungsziel allerdings erweist sich als sprödes: Big Data verliert seinen Sinn; sinnhaft als Ergebnis des Künstlerischen Forschungsprozesses und als dessen formales Ergebnis verbleibt die Erzählung never forget how fragile people are – ein calendarium (3), eine Autofiktion …

Die Kombination von intuitiven und statistischen Methoden bildet die Grundlage des von Alexandra Reill entwickelten Modells einer sich selbst generierenden Narration: Für die Monate 04–07/2019 führt Reill ein Schema ein: die Aufnahme von täglich mindest einem [Alltags-]Foto. Für den Zeitraum 06–07/2019 findet ein weiteres Schema Anwendung: Die akkumulierenden Aufnahmen speist sie in einen screensaver ein und spricht täglich eine Stunde lang anlässlich jedes Fotos, das „zufällig“, per Algorithmus eingespielt wird, genau einen Tag = Stichwort = Begriff ins Mikrofon. Dabei achtet sie auf intuitive Wortfindung und unterzieht sich der Prämisse, Tags, die vergeben werden wollen, nicht zu zensurieren.

Auf Grundlage statistisch erprobter Analysemethoden entwickelt Reill ein Evaluation System: sie geht von Daily Rankings aus, in denen jene Begriffe, die sich an einem Tag in der Nennung am häufigsten wiederholen, Ranking no. 1 erzielen; und so fort bis Platz 5. Infolge erstellt sie Ranking Listen für die Monate 06 und 07/2019 mit je 25 vergebenen Plätzen und final die Evaluierung der Gesamtperiode, in der sie ebenfalls 25 Plätze zulässt.

Parallel dazu ordnet sie die Fotos in chronologischer Reihenfolge und beschäftigt sich – vorab veranlasst durch die Überprüfung aktueller Rechtslagen – vor allem mit den Menschen, die abgelichtet sind. Schon bei Tagging hatte sich gezeigt, dass vor allem all jene Menschen, die in der eigenen Biografie eine wichtige Rolle spiel[t]en, bemerkenswerte Präsenz einnehmen, selbst wenn sie nicht abgelichtet sind; und von Reill namentlich genannt werden wollen, in direkter, persönlicher, emotionaler Bezugnahme; nicht versachlicht und nicht anonymisiert werden wollen.

Reill zeichnet die Gesichter all jener Menschen, die sie nicht um Bildnisrechte ersuchen kann, unkenntlich; ersucht all jene um das Recht der Veröffentlichung ihrer Ablichtung und um das Recht der persönlichen Nennung in den Ranking Lists, die sie anfragen kann.

Durch Tagging wie Rechte-Anfragen entsteht ein Prozess der Kommunikation und der Beziehungspflege. Der individuelle Bezug zu einzelnen Aufnahmen, Namensnennungen – den Menschen selbst – verändert sich. Persönliche Begegnungen / Beziehungen entstehen, vertiefen sich; Anonymisierung schmerzt …; Entwicklung und Erkenntnis findet in sensitiven Kommunikationsprozessen statt – never forget how fragile people are.

Letztlich führt sie der Künstlerische Forschungsprozess zu nichts anderem als der Wiederholung hermeneutischen Verstehens, denn das Evaluierungsmodell liefert zum einen enorme Datenmengen ohne Relevanz, zum anderen Ergebnisse, die intuitiv längst bekannt sind. Big Data löst sich in sich selbst auf, verliert sich in Redundanz, beweist sich als für Mensch selbst nutzloses Werkzeug, oder, wie sich ExpertInnen einig sind: Big Data betrachtet und analysiert ausschließlich Vergangenheit, kann keine Entwicklung, keine Erkenntnis erzeugen. Die Objektivierungsversuche haben auf dieser Ebene zu gültigen Ergebnissen geführt, doch am Ende löst sich der Prozess der Objektivierung in sich selbst auf, denn er führt zu nichts, das nicht schon gewusst wird, bewusst ist.

Die Installation never forget how fragile people are ist das formale Resultat dieses Künstlerischen Forschungsprozesses, in dem Alexandra Reill Alltagsfotografie, Tagging und Methoden aus der Statistik konstelliert und dabei auf das Automatische Schreiben zurückkommt – indem sie dem intuitiv Bildnerischen wie dem Katalogischen, Lexikalischen, Raum gibt, in Synergie zu treten und sich zu einem erzählenden Faden zu transformieren. Quasi von selbst entsteht so ein dramaturgisch strukturiertes Narrativ, das sich als zeitgenössisches Werk aus dem Expanded Cinema versteht. never forget how fragile people are ist eine Auto Fiction unter expliziter Bezugnahme auf Umwelt und Gesellschaft, eine Ethno Fiction. Es ist ein Regelwerk, das selbst zu seiner Quintessenz gelangt – einer Erzählung, in der Mensch die Hauptrolle spielt, denn wenn sich Objektivierung in einem Sinnbezug selbst auflösen kann, so löst sich doch eines nicht auf – das spezifische calendarium.

Für Alexandra Reill bildet sich so die Forderung nach Mensch sein [dürfen] im Rahmen individuell wie gesellschaftlich konditionierter Biografie und damit die Mission des Künstlerischen Forschungsprozesses. Ihre Conclusio führt direkt zu Reflexionen ethischer Fragen, Überlegungen zu der Bedeutung von Ethos (4); und zu dem Titel der Arbeit – never forget how fragile people are.

photos | text | translation alexandra reill
production kanonmedia | vienna 2019

NEVER FORGET HOW FRAGILE PEOPLE ARE installed at

— studio kleinlercher / kosai / vie / a / 19

NEVER FORGET HOW FRAGILE PEOPLE ARE featured in | by

— esel / vie / a / 19
— kuoka / vie / a / 19

(1)
Das wissenschaftlich anerkannteste Modell zur Persönlichkeitsevaluierung geht u. a. von einem lexikalischen Ansatz aus – der Annahme, dass alle Persönlichkeitsmerkmale in Sprache enthalten sind. Vgl. Courtney Ackerman: Big Five Personality Traits: The OCEAN Model Explained, in: PositivePsychology.com, https://positivepsychology.com/big-five-personality-theory/, 23/06/2017, update: 10/07/2019, Aufruf: 22/10/2019
(2)
Der Begriff Etymon bezeichnet „die sogenannte ursprüngliche Form und Bedeutung eines Wortes“. (Etymon: in: Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/Etymon, Publikationsdatum ungenannt, Aufruf: 17/10/2019
(3)
Im Römischen Reich bezeichnete calendarium ein Verzeichnis von Darlehen und Schuldnern, gebunden an Zahlungstermine. Erst im Laufe der Zeit wurde der Begriff an sich für die Rasterung von Zeit, Zeiträumen und den Vermerk von Geschehnissen eingesetzt, zumeist als Jahreskalender, hier von Beginn an unter Hervorhebung bestimmter Tage bzw. Ereignisse.
„Das [… 784 n. Chr. durch Bischof Virgil von Salzburg] angelegte Ältere Verbrüderungsbuch […] ist das erste große Zeugnis der Libri memoriales, in denen Einzelpersonen geistlichen und weltlichen Standes sowie ganze Klostergemeinschaften verzeichnet wurden, die in Gebetsverbrüderung standen.“ (Karl Forstner: Verbrüderungsbuch von St. Peter, in: Amt der Salzburger Landesregierung, Kulturabteilung [Hg.]: Sankt Peter in Salzburg. Das älteste Kloster im deutschen Sprachraum. Schätze europäischer Kunst und Kultur. Katalog der 3. Landesausstellung vom 15. Mai bis 26. Oktober 1982. Sonderschau des Dommuseums zu Salzburg, 2008)In Zusammenhang mit diesen stehen Necrologien und Jahrzeit[en]bücher (lateinisch libri anniversariorum), die als Begriff oft wechselweise verwendet wurden, deren Zweck jedoch de facto unterschiedlich ist. Das ursprünglich verschiedene Personen nicht einzeln hervorhebende, ältere klösterliche Necrologium – ein Neologismus mit altgriechischen bzw. römischen Wortwurzeln (vmtl. eine Zusammensetzung aus νεκρός – Toter, tot; λόγος – Logos: Wort, Sprache, Rede, Grund, Vernunft; auch λέγειν – Redegewandtheit bzw. Elogium – in der römischen Antike Inschrift auf Grabsteinen, Statuen u. a., Lobrede wird in Betracht gezogen) war ein Totenregister (vgl. Berlin-brandenburgische Akademie der Wissenschaften [Hg.]: DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute, https://www.dwds.de/wb/Elogium, Publikationsdatum: 24/10/2019, Aufruf: 24/10/2019; vgl. a. NN: Handschriften aus dem Archiv der Zisterzienserinnenabtei Seligenthal – Übersicht, in: Bayerische Landesbibliothek Online, https://www.bayerische- landesbibliothek-online.de/seligenthal-uebersicht, Status: 30/12/2012, Aufruf: 22/10/2019). Sowohl Necrologium wie die spätere „[…] Jahrzeit […] geh[en] auf die von den griechischen Kirchenvätern im 4./5. Jahrhundert entwickelte Idee des ‚Seelteils‘ zurück. Der Christ müsse zu seinem Seelenheil einen erheblichen Teil seines Vermögens (mind. ein Drittel) der Kirche vermachen. Die mittelalterliche Kirche empfahl, die Seele für das Jenseits mit einer mildtätigen Stiftung ‚auszurüsten‘, dem sogenannten Seelgerät, das neben Beichte und letzter Ölung Voraussetzung für die Absolution auf dem Sterbebett war. Die daraus entstandenen Jahrzeit-Stiftungen verbanden das Seelgerät mit der Auflage einer jährlichen Abhaltung eines Gedächtnisgottesdienstes am Todestag für den Stifter und dessen Familie. Die notwendigen Daten wurden in Jahrzeit-Büchern […] vermerkt, u.a. Name, Todestag, Stiftungsvermögen, Spenden an Klöster und Arme, Zahl der Messen und der beteiligten Priester. Gelegentlich enthalten Jahrzeit-Bücher auch chronikalische Angaben. […] Jahrzeit-Bücher aus Klöstern sind seit dem Frühmittelalter überliefert […], in Pfarreien wurden sie seit dem 14. Jahrhundert üblich. Ab dem Spätmittelalter entfernten sich die Jahrzeiten von der Idee des Seelteils […].“ (Karl Heinz Burmeister: Jahrzeit, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online, https://historisches-lexikon.li/Jahrzeit, Status: 31/12/2011, Aufruf: 22/10/2019) Das Jahrzeit[en]buch wurde zu einem Grundlagendokument zur Verwaltbarkeit von kirchlichem Vermögen und des Stiftungswesens.Norbert Angermann, Robert-Henri Bauthier [Hg.] unterscheiden in Das Lexikon des Mittelalters zwischen Necrolog (Totenbuch) und dem späteren Nekrolog (Nachruf). Im bis heute als Nekrolog bezeichneten Nachruf fanden – als interessante Neuerung – Einträge zu Persönlichkeit, Lebensphasen, Verdiensten u. ä. des Verstorbenen Eingang, wodurch der Nekrolog über das Prinzip der faktischen Registrierung hinausging und einen Schwerpunkt der Würdigung der spezifischen Biografie, des spezifischen Menschen eröffnete.„[… Mit dem Kalenderdruck gilt d]as Medium [… ] als Schlüssel zu Fragen der Volksbildung, Alphabetisierung und Literarisierung vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. […] Besonderes Interesse fand nicht das eigentliche Kalendarium, sondern der jeweilige Kalenderanhang, der Prognosen und praktische medizinische oder ökonomische Ratschläge, zuweilen auch unterhaltsame Kurzgeschichten enthielt.“ (Harald Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur. Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums, Band 3 in: Harald Weigel [Hg.]: Schriften der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VÖB), Wolfgang Neugebauer Verlag, Graz–Feldkirch 2008; vgl. a. Michael Koscher: „[…] noch hübscher ausgestattet wie der vorige. Über Kalender & Kalenderverlage im Wien des 19. Jahrhunderts“. Diplomarbeit LA Deutsche Philologie an der Universität Wien, 2008)„Kalender sind Medien zur Strukturierung und Regulierung des Jahreslaufs von Gemeinschaften. Sie bestimmen mit ihren Angaben menschliches Handeln und schaffen Wirklichkeit. Sie dienen gleichzeitig der Gruppenbildung und Identitätsstiftung. Dies zeigt der Blick auf mittelalterliche Kalender besonders eindrücklich, da diese stets nur für eine bestimmte Gemeinschaft (eine Diözese, eine Stadt oder eine Ordensgemeinschaft) gültig waren und die häufig – etwa durch familienchronikalische Einträge[…] – noch kleineren Personengruppen zugeschrieben wurden.“ (Marco Heiles: Die Entstehung des modernen Kalenders, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, https://mittelalter.hypotheses.org/22042, Publikationsdatum: 07/06/2019, Aufruf: 22/10/2019) Nachdem der Kalender im 20. Jahrhundert vor allem als Regelwerk für Aufzeichnungen zeitbezogener Ereignisse im Sinne eines Werkzeugs aufgefasst wurde und zumindest in der direkten Bezugnahme an semantischer Bedeutung in Bevölkerungen verlor, erfreut sich der Begriff heute u. a. im Data Management, der objektorientierten Modellierung [vgl. Social Calendarium] und im Social Marketing neuer Interpretation und Beliebtheit und verweist auf interessante gesellschaftliche Entwicklungen.
(4)
Griechisch „[…] ẽthos = Gewohnheit; Gesittung, Charakter“ (Etymon: in: Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/Ethos, Status / Aufruf: 22/10/2019). Als Synonyme sind u. a. anführbar: Mentalität, Mindset (engl.), Überzeugung, Denkweise, [innere] Einstellung, Geisteshaltung, Gesinnung, [innere] Haltung, Lebenseinstellung; Werte; Position, Paradigma; Selbstverständnis; Weltbild, Kultur (vgl. u. a. NN: Ethos, in: openthesaurus.de, https://www.openthesaurus.de/synonyme/ethos, Status / Aufruf: 24/10/2019).

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