Zehn Jahre Thara

Volkshilfe Österreich [Hg.]: 10 Jahre Thara, 2015. Textbeitrag

text alexandra reill 2015
production kanonmedia | vienna 2015

Der Text1 wurde auf Einladung von Volkshilfe Österreich als Beitrag zu der Herausgabe des Hefts anlässlich des zehnjährigen Bestehens von Thara2 geschrieben und blieb darin unveröffentlicht.

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Wie kam es zur Gründung von THARA? Eine gute Frage. Als Kulturschaffende, die mit ihrem Verein kanonmedia seit Jahren experimentelle Medienprojekte an der Schnittstelle zwischen Kunst und Soziokultur nicht zuletzt durch öffentlich-rechtliche Förderungen finanzieren kann, wurde ich Anfang 2004 auf die Ausschreibung des European Social Fund mit dem Schwerpunkt der Förderung von Romnia und Roma aufmerksam. 

Als Mensch, der seit seiner Jugend mit einigen Menschen aus autochthonen Lovara-Familien befreundet ist und einige dieser Menschen schon über ein paar Leben hinaus kennt, wusste ich um die schwere Benachteiligung von Roma und Sinti und darum, dass in Österreich, einem Land, das diesen Kulturgruppen gegenüber ganz besondere Verantwortung hat, sich de facto niemand dessen bewusst ist, wie isoliert viele von ihnen leben, wie gross ihre Ausgrenzung ist und wie gross ihre verständlichen Bedenken, sich so genannten Angehörigen einer so genannten Mehrheitsgesellschaft mit Vertrauen zu öffnen. Ich wusste, wie schwer Romnia und Roma zu erreichen sind.

Es gab ein Vorprojekt von Amina Handke, auch aus EU-Mitteln finanziert, das sie in Kooperation mit den Jugendzentren Back Bone und Back on Stage sehr erfolgreich umgesetzt hatte und das zu diesem Zeitpunkt im Auslaufen begriffen war: Park TV. Mit der damals noch sehr innovativen Idee, als Medienschaffende gemeinsam mit Jugendarbeiter_innen in die Parks von Wien zu gehen, Jugendlichen dort mobiles Kameraequipment in die Hand zu geben und sie dazu anzuregen, einen gemeinsamen Film über ihren Alltag und ihre Gespräche mit Anrainer_innen zu produzieren, landete Handke eine Kinopremiere im Millenium Tower, bei der der grosse Saal von Jugendlichen gefüllt war, die eine Freude und Begeisterung sondergleichen hatten, sich und ihre Freund_innen auf der grossen Kinoleinwand zu sehen. Eine der schönsten Kinopremieren, die ich je erlebt habe.

Ich dachte, was für eine schöne Idee; mit einer Adaptierung und Weiterführung solcher Ansätze kann man unter Einsatz experimentell-spielerischer Kreativität junge Romnia und Roma fördern, ohne dass sie es überhaupt merken… Wie naiv ich war…

Ich trat an Romano Centro heran, um den Verein als Projektpartner zu gewinnen. Als ich der damaligen Geschäftsführerin, der über Jahrzehnte verdienten, hochengagierten Verteidigerin und Helferin von Roma und Sinti Frau Dr. Erich gegenüber sass und ihr von Multimedia Labs und Kreativ-Workshops erzählte, an denen ganz besonders auch jugendliche Romnia teilnehmen könnten, die in einem Peer Coaching System von schon multimedial geübten jungen Romnia und Roma angeleitet werden sollten, war es nur knapp davor, dass Fr. Dr. Erich in schallendes Lachen ausbrach; stattdessen schimpfte sie mit der ihr eigenen professionell-strengen Art: „Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Die Mädchen heiraten jung, haben sehr schnell ein bis zwei Kinder, müssen sich in armen Verhältnissen um ihre Familien kümmern; und Sie glauben, dass solche Mädchen zu Ihren komischen Workshops kommen?“ Gerade, dass sie mich nicht hinauswarf…

Ich verabschiedete mich und ging zur Tür. Es überholte mich der schmale, stille und nicht mehr junge Rom, der die ganze Zeit bei der Besprechung in seinem alten, blauen Wintermantel neben Frau Dr. Erich gesessen und kein Wort gesprochen hatte, und [er1] hielt mir die Tür auf. Er drückte mir einen kleinen Zettel in die Hand und sagte: „Rufen Sie mich an, vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen.“

Es war Ilja Jovanovic, der Vater von Obrad Jovanovic. Die beiden kamen mich besuchen, und Ilja freute sich, dass ich nur schwarze Katzen mag (stimmt zwar nicht, aber es stimmt, dass es für Katzen meine Lieblingsfarbe ist). 

Es stellte sich heraus, dass Obrad einen Verein hatte, der schon seit einiger Zeit Laientheater mit jungen Romnia und Roma im Amerlinghaus veranstaltete; wir konferierten nicht nur an diesem Nachmittag lange; und Obrad entschloss sich dazu, mit seinem Verein romanodrom an der Einreichung beim ESF mitzuwirken und gemeinsam mit Back Bone und kanonmedia als Projektpartner in Gemeinschaft zu gehen. Als die beiden gingen, liess Ilja seinen kleinen Kandisin-Behälter auf dem Tisch stehen und sagte: „Heben Sie ihn gut auf, Kaffee trinke ich immer nur mit Kandisin.“ Es war mir eine besondere Ehre, und bis heute ist das Kandisin gut aufgehoben.

Wir konferierten ein ganzes Jahr lang; so lange dauerten die Vernetzungsgespräche mit grossen institutionellen Partnern wie mit Vertreter_innen aus den verschiedenen Roma- und Sinti-Communities. Als hochinnovatives und autonom gestartetes Bottom-Up-Projekt, das als erstes in der Geschichte Wiens jemals vorgeschlagenes Kompetenzzentrum von und für Roma und Sinti, strukturiert als experimentelles Medienlabor, das durch das künstlerische Spiel mit multimedialen Techniken Bildung und Self-Empowerment fördert, wurde THARA mit der zweitbesten Punkteanzahl ausgezeichnet und bewilligt.

EU-Förderungen haben ihre finanziellen Risiken; und die Themen, von denen Roma und Sinti betroffen sind, sind vielzählig. Aufgrund von Vorfinanzierungshürden, die für kleine Vereine nicht zu bewältigen sind, fragte ich die Volkshilfe Österreich an, ob sie die Projektträgerschaft übernehmen möchte, und erklärte Obrad Jovanovic, dass ich die Subvention zurücklegen würde, wenn kein grosser Partner das Projekt übernimmt, da wir sonst beide in absehbarer Zeit in Konkurs gehen würden. Nicht zuletzt durch Heinz Stieb, der von unserer Idee begeistert war und sich spontan dazu entschloss, sich innerhalb der VHÖ für das Projekt einzusetzen, – an dieser Stelle sei ihm Dank -, sagte die VHÖ zu. Ich war froh, denn es bedeutete eine nachhaltige Absicherung von THARA.

Zwar bedaure ich noch immer, dass es nie zu dem experimentellen Medienlabor kam – die Idee war vielleicht zu innovativ; aber THARA ist heute nicht mehr wegzudenken. Und ich bin vor allem auf jene jungen Romnia und Roma unendlich stolz, die über mehr als drei Jahre der Gründungs- und damit Strukturierungszeit einen mehr als steinigen Weg gegangen sind; einen Weg der langen Diskussionen – innerhalb der eigenen Communities wie mit Vertreter_innen von strategiepolitisch tätigen Institutionen – darüber, welche strategiepolitischen Wege es zu einer Förderung von Roma und Sinti auf nationaler wie transnationaler Ebene braucht. Nie hat auch nur eine/r von ihnen daran gedacht aufzugeben, es war unglaublich.

Heute ist THARA als jene Institution nachhaltig angesehen, die nicht nur zwischen verschiedenen Communities vermittelt, sondern die seit ihrem Bestehen bis heute geschafft hat, dass ein Wissen um die Kulturen von Roma und Sinti aus dem „Schlaf österreichischen Vergessens“ geholt wurde; dass seit damals regelmässig in der Medienberichterstattung über [… etwa1] die Verfolgung und Bedrohung von Roma und Sinti im so nahen Ungarn genauso wie über jene Entwicklungen auf EU-Ebene berichtet wird, im Rahmen welcher daran gearbeitet wurde und wird, dass diese Kulturen gleichberechtigt vertreten sind; dass junge Romnia und Roma den Mut gefasst haben, sich öffentlich darüber zu äussern, dass sie stolz sind, Romni oder Rom zu sein; dass gut gebildete Romnia und Roma sich für jene, die das nicht sind, als kulturelle und politische Role Models zur Verfügung stellen; dass erstmalig in einem österreichischen Museum eine Ausstellung über Orte und Spuren von Roma und Sinti stattfindet; etc. etc.

Ilja Jovanovic lebt leider nicht mehr, aber nie werde ich vergessen, wie er in so tiefer Stimme und langsam ausgesprochenem Wort sagte: „Die Menschen sind schlecht…“. Ja, Ilja, es stimmt; aber Du weisst, dass sie auch gut sein können. Und so möchte ich an dieser Stelle ganz besonders Dir und all jenen jungen Romnia und Roma danken, die in der Gründungszeit von THARA nie aufgegeben haben und damit jene sind, die THARA ins Leben gerufen haben: Gilda Horvath, Obrad Jovanovic, Muadin Memis, Novica Pajkovic und Nadine Papai [in alphabetischer Nennung]. Ich danke Euch und hab‘ Euch lieb.

Alexandra Reill, im April 2015

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1 Anmerkung: Die vorliegende Fassung wurde 2020 lektoriert und grammatikalisch-formal bedingt redigiert. Nur leichte inhaltliche Veränderungen wurden 2020 vorgenommen. Diese sind gekennzeichnet.
2 Volkshilfe Österreich [Hg.]: 10 Jahre Thara, Publikation in print und als .pdf 2015, https://www.volkshilfe.at/fileadmin/user_upload/Media_Library/PDFs/THARA/10_Jahre_THARA.pdf, Aufruf: 11/07/2020